Blue erwachte von dem schrecklichen Gefühl, wenn einem das Kabel gezogen wird. Die Realität knallte denen mit einem dumpfen Aufprall ins Gesicht. Blue schnappte nach Luft und hielt sich an der Lehne des Schreibtischstuhls fest. Aus der Traum.
„Genug gesurft. Es ist schon Mittag. Wenn du nicht arbeiten gehst, reicht es heute nicht für die Miete.“ Blues Vater hielt das Kabel in den Händen, über das Blue bis eben noch in den Cyberspace vertieft war. „Und mach deiner Schwester was zu essen.“
Er ließ das Kabel fallen und stapfte in das andere Ende des Containers. Kayla, Blues Schwester, hatte sich mal wieder unter einer Decke verkrochen. Wenn zuhause dicke Luft herrschte, war das das einzige, was man tun konnte. Wahrscheinlich las sie. Blue streckte sich und stand auf.
Einen Kühlschrank hatten sie keinen, aber Soylent war auch so haltbar. Blue holte das Pulver aus einer Tasche, die rattensicher von der Decke baumelte, und füllte zwei Becher mit gefiltertem Wasser auf. Blue trat gegen das Bett von deren Schwester und reichte ihr den Becher Soylent. Eine Hand kam unter der Decke hervor, tastete nach dem Becher, und verschwand wieder.
Immer wenn Blue nicht im Space unterwegs war, hielt es es kaum zuhause aus. Deren Vater war schon wieder am trinken, und Kayla versteckte sich nicht ohne Grund unter der Decke. Es fackelte nicht lange, griff sich deren abgetragene Jacke und verließ den Wohncontainer, ohne sich groß zu verabschieden. Vielleicht ist heute der Tag, an dem ich durchdrehe. Zeit, arbeiten zu gehen.
Es fiel Blue schwer, mit dem Kopf in dieser Welt zu bleiben. Mit einem Bein hatte es schon immer im Cyberspace gestanden, zumindest solange es denken konnte. Es gab nicht so viele Gründe, an der Realität festzuhalten. In der digitalen Welt konnte Blue sein, was es wollte.
Ironisch. Obwohl dort immer alles entweder eine Eins oder Null ist, gibt es dort viel mehr Nischen als im Meatspace. Viel mehr Raum, in dem ich sein kann, was ich will.
Ironisch war auch, dass Blue immer noch jeden Tag mit der S-Bahn zur Arbeit musste. Obwohl deren Arbeit ausschließlich im Cyberspace stattfand. Jeden Tag stöpselte es sich aus, stieg in einen Zug, stiefelte in ein Hochhaus, und stöpselte sich wieder ein. Unter anderen Umständen hätte Blue sich vielleicht beschwert, aber seit Ivan das einmal gemacht hatte, hatte es ihn nicht mehr auf der Arbeit gesehen. Kritisches Denken war kein Charakterzug, den UC Pay bei den Tagelöhnern wollte, die Werbe-Memes auf anstößiges Material überprüften. Und so hielt Blue den Mund, steckte die Hände in die Taschen, und ging zur Haltestelle.
„Sorry Jungs, ich hab erst heute Abend wieder Geld. Ihr wisst ja, wie es ist.“
Drei Gestalten hatten sich aus einer Ecke geschält, Blue kannte Derek und seine Brüder noch aus Schultagen. Derek steckte sein Klappmesser weg, als er Blue erkannte.
„Das sagst du jeden Morgen. Wir stehen hier nicht zum Spaß. Du hast deine Abgaben diese Woche noch nicht geleistet.“
Blue drehte demonstrativ die Hosentaschen auf links. „Du klingst schon wie mein Vater.“
Dereks kleiner Bruder verschränkte die Arme. „Ich weiß, du magst es, Derek. Aber vielleicht flößen wir denen noch nicht genug Ehrfurcht ein. Blue soll gefälligst den Beitrag zahlen, wie alle anderen auch.“
Blue zuckte mit den Schultern. „Ich bin in ein paar Stunden wieder da. Wie lange steht ihr hier heute noch?“
Der kleine Bruder lachte fies. „Lange genug, Kleines. Lange genug.“ Sie traten beiseite, und Blue eilte weiter zum Zug.
Während der Fahrt schaute Blue bei jeder Station aus dem Fenster, doch zum Glück stiegen keine Kontrollettis ein. Immerhin lenkte die Aufregung ein bisschen von dem Stress zuhause ab. Downtown angekommen, eilte des zum UC Pay-Turm. Der Turm war rund und hatte kaum Fenster, wie ein Bergfried. Nicht unpassend, Blue kam sich jedes Mal wie ein Leibeigenes vor, wenn des den Turm betrat. Wo man eine Wendeltreppe erwartet hätte, gab es immerhin einen Aufzug.
Es war spät dran. Die anderen knieten in ihren Erkern, in Trance verbunden. Blue fand einen freien Platz und stöpselte sich ein.
Die Arbeit floss zäh dahin. Damals, kurz nach der Schule, hatte es noch cool geklungen, mit Memes zu arbeiten. Sie hatten die Kreativbranche revolutioniert. In den alten Tagen war Werbung noch von Creative Designer*innen, Künstler*innen, und anderen Tunichtguten erstellt worden, die im Überfluss lebten und Koks-Partys schmissen, um ihre horrenden Budgets zu feiern. Die Anzugträger*innen waren noch auf die bunten Querköpfe angewiesen gewesen, und hatten ihnen alles durchgehen lassen.
Doch irgendwann fand man durch Big-Data-Tracking heraus, dass Käufe mittlerweile größtenteils durch Memes motiviert waren – Bottom-Up Content Creation, die Massen überboten sich gegenseitig im ständigen Wettlauf darum, eine Marke zum neuen heißen Scheiß zu erklären. Und die einzige Aufgabe, die noch gebraucht wurde, war Memes auszusortieren, die nicht in die Corporate Compliance Policy passten. Blue war einige Jahrzehnte zu spät gekommen mit dem großen Traum, von Kreativität leben zu können.
Die einzige Antwort, die Blue auf diese Sinnkrise einfiel, war Sabotage. Alle Memes wurden von vier Augen gesichtet – Blue musste auf deren Kolleg*innen vertrauen, dass sie ähnlich dachten. Und es gab einen gewissen Rhythmus, bei dem es funktionierte. Ungefähr jedes achte Meme, das eigentlich zu provokant, sittenwidrig, oder subversiv war, winkte Blue trotzdem durch. Klar, ab und zu gab es eine Verwarnung; aber selten genug, dass es den Job behalten konnte, und deren Familie nicht auf der Straße saß.
Nach vier Stunden schreckte ein Reminder es auf – nun fingen die Überstunden an, schlechter bezahlt als die ersten vier Stunden, die man am Tag arbeitete. Wenn es für die Miete und Soylent reichen soll, aber ich auch Derek nicht sitzen lassen will, muss ich eigentlich noch zwei Stunden weitermachen. Drek.
Doch Blue hatte das Soylent satt. Es hatte auch Derek satt, die Arbeit, und auch die Miete und den verfraggten Container. Blue stöpselte sich aus und verließ den Turm. Die meisten anderen waren noch in Trance, als es ging.
In Blue schwelte es. Vielleicht ist heute der Tag, an dem ich durchdrehe. Blue zog eine FFP2-Maske und eine Kapuze auf, und schaltete das Kommlink aus. Keine Spuren hinterlassen, auch keine digitalen. Mit seinen abgerundeten Fenstern sah der Supermarkt ein bisschen wie eine mittelalterliche Kathedrale aus. Nur dass die bunten Scheiben keine heiligen zeigen, sondern Werbe-Deals. Die Türen gingen wie von selbst auf, als Blue auf sie zuging.
Es zog Blue zu dem Bereich mit den organischen Lebensmitteln, wo es auch Pilze und Algen gab. Soylent mochte alle nötigen Nährstoffe enthalten. Doch heute brauchte Blue auch etwas, das schmeckte. Beiläufig steckte Blue eine Hand voll Pilze in die Jackentasche. Das Gedränge im Supermarkt war unangenehm, aber gab eine gute Deckung ab. Ein Glas Algen und ein synthetischer Softdrink verschwanden in der abgetragenen Jacke. Blue griff sich noch einen anorganischen Kaugummi, um nicht ohne etwas an der Kasse zu stehen.
„Haben Sie eine Payback-Karte?“
Blue schüttelte den Kopf und zählte ein paar Münzen ab.
„Tut mir leid, Bargeld nehmen wir hier nicht mehr. Änderung der Vorschriften.“
„Und wie sollen Leute bezahlen, die kein digitales Geld kriegen?“ Blue schaute ungläubig. „Ach, behaltet euren verdammten Kaugummi doch.“ Blue ließ die bezahlte Ware einfach auf dem Band liegen und stapfte wütend Richtung Ausgang.
Da legte sich eine schwere Hand auf deren Schulter. „Kommen Sie doch mal bitte mit.“
Drek. Ein Ladendetektiv.
Blue hat nur eine Chance. Es stößt ruckartig mit dem Ellenbogen nach hinten. Blue spürt die Wampe des Secus und hört ein Japsen. Keine Zeit verlieren, auf die Türen zusprinten. Sie schließen sich langsam, der Bewegungsmelder will es diesmal wohl nicht mehr durchlassen. Blue dreht sich leicht zur Seite, wirft sich hindurch, und ist auf der Straße. Da geht die Sirene los.
Nach einem kurzen Sprint schaut Blue das erste Mal hinter sich. Zwei Secus in Wams-ähnlichen Uniformen sind hinter denen her. Verdammt, meine Kapuze ist heruntergerutscht.
Blue biegt um eine Ecke, und um noch eine. Was ist das für ein Lärm?
Sonst wäre hier eine vielbefahrene Straße, doch heute trauen sich hier keine Autos hin. Die, die am Straßenrand geparkt sind, haben eingeschlagene Fenster. Schwarz gekleidete Gestalten schlagen Seitenspiegel ab, sprühen Parolen an die Schaufenster, und werfen Steine in eine Richtung, aus man nur einen eigenartigen Nebel sieht. Oder Qualm? In dem Chaos kann ich untertauchen.
Blue zieht sich die Kapuze wieder auf und wird Teil der Menge. Auf dem Boden liegt ein Stein. Er passt genau in Blues Hand. Damit fühlt es sich gleich sicherer. Blue hält kurz nach den beiden Secus Ausschau. Sind sie überhaupt soweit hinterhergerannt?
Die Schergen des Supermarkts standen in der Gasse, durch die Blue hergekommen war, stützten sich auf die Knie ab, und keuchten. In den Protest trauten sie sich nicht. Blue fühle sich sicher.
Ein paar Meter weiter versuchten ein paar andere, ein Straßenschild aus dem Boden zu reißen. Eigentlich war hier wohl Parkverbot. Blue schloss sich ihnen an. Vielleicht helfen sie mir dann auch gegen die Secus. Doch die Secus waren bald kein Problem mehr. Als Blue nochmal aufschaute, sah es gerade noch, wie die beiden wieder in der Gasse verschwanden.
Auf dem Boden lag ein schwarzes Tuch. Es fragte sich, wo es herkam – doch es war irrelevant. Blue knotete sich das Tuch übers Gesicht und wurde Teil der anonymen Masse.